Zu den Skulpturen von Ulrike Möhle
Ingmar Lähnemann
Zur Ausstellung „konkret bremen“ in der Städtischen Galerie Bremen, 2020
Ulrike Möhle zeigt in ihren Skulpturen im Raum und an der Wand das verwendete Material in seiner puren Materialität. Sie setzt im Zusammenspiel unterschiedlicher Materialien wie Beton und Acrylglas auf deren jeweils spezifische Qualitäten, um besondere Wahrnehmungsebenen bei Betrachter*innen zu aktivieren. In der Wandarbeit „Translucide I“, 2019, lässt sich gut sehen, wie sowohl das mintgrün transparente Acrylglas wie auch der es fassende Beton in ihrer jeweiligen Materialität sichtbar bleiben. Durch die Kombination werden jedoch neue Erfahrungen möglich, so zum Beispiel die überhöhte Farbigkeit der Skulptur, die im Kontrast von grauem Beton und grünem Glas (und weißer Wand) entsteht und in den Raum abstrahlt. In ihren Betonbearbeitungen setzt Ulrike Möhle vor allem auf architektonische Grundformen wie den Kubus, der jedoch beschnitten, gekerbt, von Rechtecken gefasst wird und nicht vollkommen präzise gearbeitet ist. Nicht perfekte Kantenverläufe, mehr oder weniger rechte Winkel und sich unterscheidende Oberflächenstrukturen erzeugen eine organische Nebenwirkung ihrer Skulpturen und arbeiten gegen die gewohnte Härte des Betons, dessen Materialität sie als äußerst vielfältig darstellt. Fühlbar wird dies in der Skulptur „Tektonisch VI“, 2017, einer Stele aus vielen klaren Einzelteilen, die ineinandergreifen und als Beton unterschiedliche Strukturen zeigen, bevor die innenliegende Acrylglasscheibe sichtbar ist. Durch die Integration von solch weiteren Materialien potenziert sich die Vielfältigkeit des Betons zu Qualitäten, die emotional beschreibbar scheinen. Er wird sanft, unnachgiebig, entschieden, zurückhaltend, bizarr, befremdlich, vage, weich, flexibel, absurd, obskur, wunderlich, paradox und so weiter – zumindest werden solche individuellen Zugänge nahegelegt, ohne dass einzelne Betrachter*innen derartige Qualitätszuschreibungen schlüssig in der Skulptur begründen könnten. Ulrike Möhle hat ihren jüngsten Einzelkatalog „stapeln, schichten, schieben“ benannt und beschreibt damit sehr gut ihr Verfahren, aus Einzelelementen, die für sich eine individuelle Konfiguration aufweisen, eine komplexere Gesamtfigur zu erarbeiten. Für Betrachter*innen bleibt die Arbeit dieses Ineinanderfügens sichtbar, die Skulpturen sind im Geiste wieder auseinandernehmbar, die einzelnen Teile stehen für sich. Doch sie fügen sich eben auch zu einem Gesamtgebilde zusammen, was dann schnell Assoziationen an Architekturen nahelegt. In der großen Betonskulptur „Z 1 [stabiles ungleichgewicht]“, 2019, wird dies sichtbar, hier erscheinen die fünf einzelnen Kuben, deren rechteckige Einschnitte mit neongrünem transparentem Acrylglas geschlossen werden, gestapelt als mehrstöckiges Gebäude mit Fenstern. Mit dieser Reminiszenz wird deutlich, wie Ulrike Möhle ihre Werke mit individuellen (kulturellen) Erfahrungen der Betrachter*innen verknüpft, deren Rezeption sie auch über eine bestimmte Körperlichkeit der Skulpturen anspricht, die wiederum wie im Fall von „Z 1“ gelegentlich auch zu Unsicherheit führt. Auf dünne Metallstreben gestellt, wirkt dieses schwere Gebilde fragil, würde man es berühren, würde es tatsächlich schaukeln, der Träger bildet somit das letzte Element, um in diesen Skulpturen ein Verhältnis zum Raum zu erzeugen, dessen Bewertung und Einordnung sich über einen Körpersinn der Betrachter*innen ergibt.
Alejandro Perdomo Daniels
Zur Ausstellung SUBSTAZNen, Hafenmuseum, Bremen, 2018
Ulrike Möhle beschäftigt sich mit den plastischen Eigenschaften der Materie und der Zusammenwirkung der Formen. ln Espace/Surface 3 bedient sie sich der materiellen Beschaffenheit von Beton und Steinzeug, um ein ästhetisches Spiel mit Materialien mineralisch ähnlichen Substrates, die dennoch unterschiedliche 0ualitäten aufweisen, zu ermöglichen. Dabei schafft sie eine offene Form, bei der Volumen, Raum, Flächen, Licht und Schatten aufeinander Bezug nehmen, so dass eine in sich kohärente Werkeinheit entsteht. ln Tektonisch V/ kommt das lneinandergreifen der Formen zur Geltung durch die Art und Weise, wie die Plastik als zusammengesetztes Gefüge komponiert wird. Durch Öffnungen, Schatten und Lichteinfälle weisen die Elemente auf ein räumlich lnneres hin, das die homogene Transparenz eines farbigen Acrylglases akzentuiert. Dieses hebt zugleich den baulichen Rhythmus der Plastik hervor, die stets auf sich selbst verweist.
Frank Laukötter
Minimal ist maximal, aufmerksames Anschauen das Geheimnis
Über die Plastiken von Ulrike Möhle
„Aufmerksamkeit ist ein natürliches Gebet des Geistes.“ – Nicole Malebranche
Eine kleine, frühe, geheimnisvoll einfache Arbeit namens Shadow (Abb. S. XX) von Ulrike Möhle besteht aus zwei Teilen – womit sie schon keine einfache Arbeit mehr ist – auch in anderen Hinsichten. Das eine um andere Detail bedarf der Aufmerksamkeit. Beide Teile gleichen sich formal, nicht aber farblich. Die Form hat in der Breite und Höhe jeweils die eines Vielecks mit neun Ecken, entspricht also nicht der klassischen Form des Vierecks, genauer Rechtecks. Beide Teile sind aus Steinzeug, oberflächlich matt schwarz, der linke Teil ist in den beiden oberen Dritteln gelb, der rechte grau glasiert. Zwischen den matten und den glänzenden Oberflächen ist je eine kleine Kerbe in die Reliefs von Shadow geritzt. Durch den Titel wird dieses Werk von einem konkreten zu einem abstrakten. Die glänzende Oberfläche des Bildkörpers ist eine Ebene, die Licht reflektiert, die matte dessen Schatten. Die Reliefs einen also, getrennt durch je eine Kerbe, ein Ding und dessen Schattenriss. Hinzu kommt – womit die Arbeit ferner keine einfache mehr ist – der Schatten, den es wirft, wenn es auf Licht trifft: Shadow stellt zugleich einen Schatten dar und einen Schatten her.
Je einfacher ein Werk zu sein scheint, desto einladender ist es, dieses eingehender – wieder und wieder – wahrzunehmen. Zurück zu Shadow. Der Teil, der den Schatten wirft, ähnelt den Formen, die George Braque und Pablo Picasso verwendeten, als sie den Kubismus erfanden. Es handelt sich um Kippfiguren, bei denen es ambivalent bleibt, ob eine Kante von den Augen zurückweicht oder ihnen entgegenspringt. Es gibt die Theorie, dass die Künstler hierzu von einem Naturforscher inspiriert wurden, der Ernst Mach hieß. Dieser hatte für eine solche Ambivalenz die grafische Wiedergabe eines geknickten Zettels ins Feld geführt, bei dem offen bleibt, wohin der Knick den Blick weist. Selbiger Forscher, der Wegbereiter der Gestalttheorie ist, ließ seine innere Perspektive in einem Buch illustrieren. Zu sehen ist ein Fenster gegenüber, links Bücher in Regalen, seine Beine, ein Stift in seiner rechten Hand, nicht zuletzt aber den Rahmen seines linken Auges und sein linker Nasenflügel. Mach nimmt wahr, sehr, sehr genau wahr, auch sich selbst, während er wahrnimmt – was eine Empfehlung sei für die Wahrnehmung der Arbeiten von Ulrike Möhle.